Ramona Raabe
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Zum Attentat des 19.12. in Berlin
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Zum 19.12.2016 in Berlin.
Weihnachtsmärkte sind die fröhlichsten Versammlungen. Es sind Orte der Wärme und Gemütlichkeit (und glühwein-wohliger Trunkenheit) mitten im kalten Winter. Sie erschaffen die Illusion kleiner, glücklicher Dörfer, mit Lichtern und Lachen und Zuckerwatte; und die Dinge, die verkauft werden, sind teilweise mit solch größtmöglicher Hingabe zum Schönen, Fröhlichen, teils Kitschigen hergestellt worden, dass sie gar keine andere Funktion erfüllen außer ‚hübsch‘ zu sein – und genau das ist rührend. Jetzt ist jemand in einen LKW gestiegen und hat eine Passage eines solchen Markts niedergewälzt und dabei mindestens zwölf Leben hinfort gerissen.
Ich habe so wenig gefühlt, dass es verstörend war. Ich wühlte innerhalb dieser empfundenen Leere nach einem Gefühl, das so stark wäre, dass es mir das Ausmaß der Tat bestätigen kann. Im Erschrecken fehlte die Überraschung. Ich verspürte nicht die unmittelbar traurige Fassungslosigkeit, wie ich es nach den Anschlägen auf Paris und Nizza tat. Dabei war es dieses Mal in genau der Stadt passiert, in welcher ich seit fünf Jahren lebe; unweit einer Stelle, wo ich drei Stunden zuvor selbst noch in Weihnachtsmission gebummelt hatte – und meine erste Reaktion war eine grässliche Empfindung des Nichts. Das ist kein emotionales Abstumpfen. Das erlaube ich nicht. Ich weigere mich, mich an Terrorismus zu gewöhnen. Ich weigere mich, Attentate als etwas zu akzeptieren, dass ‚ab und ab halt bei uns passiert‘. Nein.
Vor einigen Wochen war ich Teil eines kleinen Seminars mit der polnischen Schriftstellerin Joanna Bator. Zum Thema hatte es ‚the horror of cruelty‘. Was ist das, Grausamkeit? Die aus Lettland stammende Politologin Judith Shklar definierte Grausamkeit als ein absolutes Unrecht, dass dann vorherrscht, wenn ein Wesen einem anderen – schwächeren –vorsätzlich physischen Schmerz zufügt, mit der Absicht Qual und Angst hervorzurufen.
Natürlich fanden wir, dass es weitere Schattierungen der Grausamkeit gibt. Und dass, in geringeren Abstufungen, wir alle zu sowohl Opfer als auch Täter von grausamen Taten werden. Während wir körperliche und emotionale Grausamkeit nicht hierarchisieren wollten, haben wir uns doch glücklich geschätzt, dass die meisten Männer und Frauen unserer erlebten Realität nicht die Formen von Grausamkeit kennen, die uns aus anderen Teilen der Welt überliefert werden. Etwa aus Kriegsgebieten, oder Kulturkreisen, in denen bestimmte Verstümmelungen als ästhetisch oder gar notwendig gelten. Doch, so hat auch dieser Vorfall in Berlin wieder gezeigt, auch diese Grenzen der Grausamkeit verschieben sich (erneut!), und das erschüttert – aber es ist bedeutsam festzuhalten, dass dies nicht daran liegt, dass die anderen Grenzen, die der Länder nämlich, ‚offen‘ sind. Geschlossene Grenzen, mauergleich, schieben härter, drückender, und in eine Ausweglosigkeit hinein – in Bewegung ist die Welt ohnehin.
Grausamkeit ist überall, und für manchen Denker und Forscher gilt sie auch seit Anbeginn der Zeiten als essentiell für das Wesen des Menschen. Wenn sie also da ist, wie ihr begegnen? Empathie füreinander ist die naheliegendste Antwort – doch gerade in Momenten der Verzweiflung und des Unverständnis ist sie nicht die tröstlichste, weil so unbefriedigend unkonkret. Empathie wirkt präventiv, aber manch Kampf lässt sich nicht mit ihr austragen. Manchem Wahn gilt absolut kein Verständnis.
Wenn Seehofer sagt, dass wir den Opfern schuldig sind, jetzt unsere Flüchtlingspolitik zu überdenken – was meint er denn damit? Schließlich könnte man auch sagen, wir sind es den nach Deutschland Geflüchteten schuldig, nun endlich zumindest im Ansatz zu erkennen, was für Zustände einen Mann, eine Frau, eine ganze Familie zwingen können, ihr Land und bisheriges Leben zu verlassen. Es geht hier nicht um Schuld, nach diesem Attentat. Wir haben keine. Wir haben Aufgaben. Die Schuld trägt der Attentäter. Sehr wahrscheinlich ist dieser Mensch als Flüchtling in Deutschland angekommen. So wie hunderttausende andere auch. Einer von ihnen hat mich am Montagabend gleich angerufen. Ob es mir gut gehe, wo ich sei. Es tut mir Leid, dass er sich diese Fragen nun auch hier stellen muss.
Wie Peter Dausend auf ZEIT online schon treffend kommentierte: [Die Rechtsparteien] twittern sich in Ekstase. Es seien Merkels Tote, heißt es da etwa. Diese Logik ist genauso intelligent, als würde man einen Mann, der für seine Frau eine Feier veranstaltet, dafür verantwortlich machen, wenn einer der Gäste (vielleicht jemand, der einfach nur mitgebracht wurde) ein Feuer legt.
Das rechte Lager eifert in einer „Wir haben es euch doch gesagt“-Attitüde. Was habt ihr uns gesagt? Dass Menschen grausam sein können? Und dass, wenn mehr Menschen in unser Land kommen, auch einige dabei sein könnten, die genau das praktizieren? Dass es radikale Islamisten gibt, die für ihren Auftrag töten wollen, auch bei uns in Deutschland? Das wussten wir. Nichts habt ihr uns gesagt, was uns jetzt erst einholen würde. Wer attackieren will, kann seinen Weg finden. Als Flüchtling, als Tourist, als Einwanderer – oder direkt durch den Geburtskanal der eigenen deutschen Mutter. Die Frage, die ihr euch eigentlich stellen müsst, ist, wieso eine vermutliche Reduzierung (niemals Eliminierung) der Terrorgefahr für deutsche Staatsbürger mehr wert ist, als die tatsächliche Errettung der Leben hunderttausender Menschen? Denn genau das ist die Wertung, die jeder, der sich gegen die Aufnahme von Flüchtlingen positioniert, vertritt. Wir nehmen Menschen nicht einfach in ‚unserem‘ Land auf, weil uns nach Nettigkeit ist. Wir schauen jetzt nicht auf die Reste eines zerstörten Weihnachtsmarktes und denken „Huch“, vor Angst schlotternd. Wir verstehen uns als Weltbürger, als Menschen; wir strecken unsere Hand aus in Zeiten einer humanitären Katastrophe, die uns alle betrifft. Natürlich nicht zu jedem Preis. Natürlich nicht bis zur totalen Selbstaufopferung. Natürlich mit unseren eigenen Liebsten und Nächsten im Blick. Aber wir sprechen bei den Menschen, den wir helfen möchten, bei weitem von keiner ‚Masse‘, die uns in dieser Menge gefährden würde. So ‚offen‘ sind unsere Grenzen nämlich auch nicht.
Die oft abfällig als „Gutmenschen“ etikettierten Personen, die auf ihre Weise versuchen zu helfen, haben auch nie behauptet, dass es einfach wäre. Sie sind nicht Teil eines naiven Multi-Kulti-Wunderlandes, einer utopischen Idee des Friedens, welches die Schwierigkeiten verschiedener kultureller und religiöser Wertvorstellungen, bishin zu radikalen Ausprägungen, völlig negiert. Ganz im Gegenteil. Anders als die, die ihr nur schimpft und abwehrt, konfrontieren sich die, die helfen und anpacken, mit den tatsächlichen Schwierigkeiten. Und arbeiten daran. Wir sehen nur die gemeinsame Lösung als eine dauerhafte Lösung. Die Welt ist in Bewegung, und die Vorstellung geschlossener Grenzen ist so naiv, wie das Verhalten einer Person, die erkennt, dass sie in einer brennenden Wohnung badet und nur den Duschvorhang zuzieht.
Die Angst, die Berlin nun weltweit in vielen Medien angeblich attestiert wird, lähmt uns nicht. Wir machen weiter, weil wir leben. Wir machen weiter für und mit den Werten, an die wir glauben. Daran hat sich gar nichts geändert.
Ich war in der U-Bahn, auf meinem Weg von Neukölln in den Wedding, als ich eine fb Nachricht erhielt von einem Freund in Kalifornien. Es war zwanzig Minuten vor einundzwanzig Uhr. Er schrieb, „just read about Berlin“ und fragte, ob ich „okay“ sei, sendete „prayers“. Mein Magen drehte sich. Etwas Grausames musste passiert sein, und es war bereits in den internationalen Nachrichten. Bevor ich ihm überhaupt antwortete, googelte ich Berlin (bald darauf als „Katastrophengebiet“ gekennzeichnet). Ich las die wenigen Informationen, die es zu dem Zeitpunkt gab, antwortete dem Freund und schrieb einigen anderen. Die Menschen in der U-Bahn schienen noch nicht Bescheid zu wissen. Sie waren in ihrem so häufigen Zustand nihilistischer Schläfrigkeit. Manchmal, wenn die U-Bahn nicht zu voll ist, schaukelt sie uns wie in einem riesigen Kinderwagen. Das Berliner Fenster hatte auch noch nichts zu sagen. Es liebt eigentlich „VIP-News“. Absurderweise suggeriert es uns dadurch eine Art verdrehter Normalität. Auch die Lombardis streiten. Allerdings, fiel mir dann auf, war mir die ‚Nachricht‘ sicher auch nicht anzusehen. Wie sollte sie auch aussehen? Alles, was ich tat, war mich beobachtend umzuschauen, um dann wieder in mein Handy zu starren. Aber was könnte ich tun? Die Konfrontation mit einem grausamen Terrorakt lässt einen im ersten Moment mit einem Gefühl der Ohnmacht und der Hilflosigkeit zurück. Das ist es, was es tut. Das ist es, was es will. Das ist es, was im unmittelbaren Kern seiner Natur liegt. Konnte ich etwas tun, um direkt zu helfen? Nein. Es handelte sich um kein Erdbeben, bei dem etwa jede helfende Hand im Nachhinein gebraucht werden könnte. Die Toten waren schon tot, die Verletzten waren verletzt, das Ereignis, was sich als Trauma in die Geister vieler Anwesenden gebrannt haben wird, die Bilder nämlich, mit denen viele von ihnen nun lange noch werden kämpfen müssen; all das war bereits geschehen; all das in Sekunden. Und ich, die sich noch immer sicher fühlte, hier in der U-Bahn-Linie Acht, würde sehr wahrscheinlich sicher bleiben. Würde nicht eines der Opfer geworden sein. Wer auch immer das entscheidet. Was geschah, war geschehen, die Momente haben ihren Kurs eingeschlagen, und wie mit jeder Art der Tragödie ist es die Empfindung eines unwiderbringlichen, uneinholbaren „Zu späts“, das schmerzlich ins Bewusstsein sickert. Ja, der mutmaßliche Attentäter galt vorher schon als „Gefährder“. Zu spät. Ja, die Papiere, welche die „Abschiebung“ ermöglicht hätten, sind nun angekommen. Zu spät. Die Medien lieben es, im „Zu spät“ zu wühlen (wie es in gewisser Weise auch allzu menschlich ist). Ja, wir lernen daraus, dass wir stellenweise härter durchgreifen müssen. Wachsamer sein müssen. Das sagen auch andere Neuangekommene, Geflüchtete. Denn sie sind genauso betroffen wie wir.
Wann immer ich persönlich großen Verlust im Leben erfahre, erinnere ich mich daran, dass es denjenigen, die gegangen sind, nicht hilft, wenn wir in Schmerz und Traurigkeit verharren (natürlich ist dies nur die bekannte Theorie, aber immerhin das Fundament, welchem die Gefühle folgen können).
Verlusttrauer ist nicht, wofür wir am Leben sind – immerhin genau der existentielle Zustand, der für jene, um die wir trauern, schon nicht mehr gilt. Dafür haben wir nicht überlebt.
Wir sind das Noch-nicht-zu-spät.
Wenn wir den Opfern also tatsächlich in Schuld verbunden sind, dann in der, sie nicht zu vergessen und weiterzumachen, weiterzuleben.
Starre, Angst und unaufhörliche Trauer wertschätzt ihre vergangenen Leben nicht. Dies trifft genauso auf einen kollektiven Verlust zu, den einer Stadt, den einer Gemeinde; auf einem größeren und politischen Level.
Wir können und wir sollten jetzt trauern. Oder uns leer fühlen. Aber umso mehr sollten wir singen und in Einheit stehen, wie die Berliner es auch getan haben, als sie sich vor der Gedächtniskirche versammelten und ihre Stimmen zu „We are the world“ anklangen.
Antoine Leiris, ein französischer Journalist, der seine Frau im November 2015 in den Pariser Attentaten verlor, wurde oft mit seinem starken Standpunkt zitiert, über welchen er nun auch ein Buch geschrieben hat: „Meinen Hass bekommt ihr nicht.“ (Original: „Vous n’aurez pas ma haine“).
Dem sollten wir uns anschließen; auch wir, die persönlich nicht direkt betroffen sind, und die ‚Versuchung des Hasses‘ nur unverhältnismäßig versuchen können, nachzuempfinden. Und mit jedem Attentat wollen wir dem ein „erst recht“ hinzufügen.
Erst recht bekommt ihr unseren Hass nicht.
Ich denke an die Opfer und ihre Angehörigen. Es kommt mir fast anmaßend vor, euch unbekannterweise mein Mitgefühl zu senden; und bei all den langen vorangegangenen Worten, fehlen sie mir hier. Was euch geschehen ist, tut mir unfassbar Leid.
Unsere Lichter, auch die der Verstorbenen, scheinen weiter, und sie scheinen heller. Schwarze Sterne leuchten wieder auf.

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