Ramona Raabe
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Der leere Grund – Filmkritik: We Need to Talk About Kevin (2011)
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Dies ist eine ältere Filmkritik, die ich vor einiger Zeit zu Lynne Ramsay’s We need to talk about Kevin (USA, GB 2011) geschrieben habe. Da das Schöne an Filmen aber vor allem darin besteht, dass sie sich immer aus dem Präsens speisen und niemals gänzlich unaktuell werden, sobald sie sich bei jedem play neu erzählen, kann auch eine Filmkritik kein Ablaufdatum haben. — Das wird nicht bei all meinen Kritiken so sein, aber diesmal, für ganz Empfindliche, SPOILER ALERT — ….

 

DER LEERE GRUND

Sterben, Schuld und ein bisschen Restliebe: Wenn das Kind zum Amokläufer wird. Die Schottin Lynne Ramsay hat Lionel Shrivers Bestseller WE NEED TO TALK ABOUT KEVIN verfilmt. Aufarbeitung eines amerikanisches Traumas mit Tilda Swinton – aus einer ungewöhnlichen Perspektive. Verstörende Bilder einer sinnstiftenden Sinnlosigkeit.

Kinder tun schlimme Dinge. Sie sprechen hässliche Wahrheiten aus, quälen Tiere, hänseln einander. Und wenige von ihnen töten auch. Was das eigentlich bedeutet, wenn das eigene Kind zum Mörder wird, arbeitet Lynne Ramsay in der Romanverfilmung WE NEED TO TALK ABOUT KEVIN (2011) auf. Der Film zeigt den Horror einer Mutter, deren Sohn zum Massenmörder wird und der Versuch eines möglichen Lebens danach. Es ist ein Leben, dass in jene Vergangenheit flüchtet, welche die Gegenwart erst unerträglich und die Zukunft unvorstellbar macht. Was bleibt, ist die Auseinandersetzung mit der Tat, den Stationen, die ihr vorangingen und dem eigenen Anteil daran. Tilda Swinton spielt in expressiver Ausdruckslosigkeit das traumatisierte und schwerdepressive Wrack einer Mutter und ehemaligen Karrierefrau, deren Leben in Bruchstücken vor ihr liegt, so wie ihre Psychopharmaka ungehalten aus dem Döschen fallen und separiert den Holzboden schmücken. Das Stechen der Vergangenheit ist genauso unumgänglich und masochistisch zu ertragen wie das gerührte Ei mit Schalenresten, das sie in Kasteiung verzehrt. Ich gebar, also sühne ich. Die Frau, vor der sie sich im Lebensmittelladen noch verstecken wollte, hat sie nämlich doch erkannt und die Eierpackung zerschlagen. Weil der Sohn der Tochter einen Pfeil in die Brust jagte und diese Tochter nicht mehr lebt. Wenn Kinder doch aber unschuldig sind – wer ist dann Schuld?

Die scheiternde Mutter und das böse Kind

Eine Frau zur Besuchszeit im Gefängnis. Man kennt und grüßt sie dort, sie ist häufig da. Sie besucht ihren Sohn, der hier sitzt, weil er einen Massenmord begangen hat, und zuckt zusammen, als er in den Raum geführt wird. Es schauert ihr bei diesem Sohn. Er gibt sich gelassen, fast gelangweilt. Eigentlich ist Eva Khatchadourian (Tilda Swinton) glücklich gewesen, verliebt in Franklin (John C. Reilly) und genießerisch, zu einer Zeit in der sie rotklebrige Flüssigkeit auf ihrer Haut noch sinnlich finden kann. Dann kam der Sohn. Ein kleines, ihr anvertrautes Wesen, sehr schreifreudig, ja, und doch, im Grunde, nur ein Baby – der Film erzählt den Beginn dieser Beziehung auf eine Art und Weise, die möglicherweise den eigentlichen, ersten Skandal der Geschichte ausmacht: Diese Mutter liebt ihr Kind nicht. Schon vor der Geburt verlässt die Eva frühzeitig die Schwangerschaftsgymnastik, während der Geburt kämpft sie gegen die Wehen an und kaum auf der Welt, wird Kevin der wertvollste Treibstoff der gesunden humanen Entwicklung, wie der pädagogische Konsens noch fortwährend postuliert, verwehrt und allenfalls bemüht vorgegaukelt. Die leidenschaftlich Reisende, welche das Kind sesshaft zwingt, die statt Frankreich zu bereisen nun in der Vorstadt noch Jahre Windeln wechselt für ein Kind, dass ihr nur mit Ablehnung, Verweigerung und Bösartigkeit begegnet. Die Mutter auf der anderen Seite: Voll Ungeduld, Härte und nur dürftig vorgetäuschter Begeisterung.

„Kannst du Mama sagen?“, versucht sie es im häuslichen Sprachunterricht, während das Kind auf einen Xylophon hämmert als wolle es den Tasten Köpfe einschlagen. Das reagiert zwar und versteht offensichtlich, funkelt aber nur bösen Blickes. Ein einziges, scharfes Wort gibt es zurück, welches die gesamte Haltung des kleinen Zöglings zu diesem Leben fassen mag: „Nein.“

Dieser wiederholt auftretende, kindliche Dämonblick könnte Späteinsteiger vermuten lassen, es handle sich um eine weitere Neuverfilmung von Richard Donners Das Omen aus 1976.
Die ersten Minuten des Filmes zeigen das Leiden einer Frau, die sich durch den Sohn eingeschränkt und terrorisiert fühlt. Der euphemistisch gestimmte Mann und Vater Franklin findet das alles unbedenklich. Es ist der krasse und unerhörte Gegenentwurf zum amerikanischen Paradigma. Die nährende Mutter scheitert – schon als Baby verweigert Kevin die Brust. Schließlich spricht Mutter die unverzeihlichen Worte: „Mama war glücklich, bevor der kleine Kevin da war, weißt du das?“ Für wen das noch nicht scharf genug ist: Wenig später schleudert sie den mittlerweile Vierjährigen, der sich berechnend, durchschauend und hochintelligent gar nicht wie das Durchschnittskind verhält, aber sich immer noch vergnüglich-kontrolliert in die Windeln entleert, in eine Zimmerecke. Kevin bricht sich den Arm, weiß genau, dass er den Vater bei der späteren Erklärung anlügt und weiß noch besser, wie er die Schuldgefühle der Mutter für seine Zwecke instrumentalisieren kann. Einmal gibt es sie, die Annäherung: Als Kevin krank wird, kümmert sich Eva und Mutter und Sohn kommen sich so versöhnlich, liebend nah, dass die Geschichte an dieser Stelle vorbei sein könnte. Aber mit Kevins Gesundheit kehrt auch sein natürliches Wesen zurück. Dem Vater gegenüber gibt er den fidelen, unternehmerischen Sohnemann, die später geborene kleine Schwester, Inkarnation eines lieblichen Goldmädchens, wird in Weihnachtsgirlanden geknebelt, herum kommandiert und vom Staubsauger durchfrisisiert. Harmlose Geschwisterspäße? Dass sie ganz schön hart sein könne, sagt Kevin einmal im Teenageralter zu seiner Mutter. Dass er das wohl von ihr habe. Eine Aussage, die wenig später eine große Anschuldigung bedeutet hätte.

Ramsay erzählt in ihrem Film von der Beziehung, wie sie nicht sein sollte, von der undenkbaren, anhaltenden Schauervariante und demaskiert damit den Mythos Mamma-Sein auf eine unverblümte und zunächst einmal ins Staunen versetzende Weise.
In einer freigeistlichen Zeit, in der es kaum noch Tabus zu geben scheint, packt Ramsay ein Bleibendes direkt am Schopf. Das Mütter und Söhne sich bekriegen können, ist bekannt und im Mediengedächtnis angelangt. Dass eine Mutter aber einen Kampf auf Augenhöhe mit ihrem doch scheinbar noch unwissenden und unschuldigen Jungen ausfechtet, und dabei an die Grenzen der vermeintlich erwachsenen, von edler Moral gekennzeichneten Überlegenheit gelangt, das stellt Ramsay neuartig auf eine unmissverständliche, aber zugleich zweideutige Weise dar. Zweideutig deshalb, weil die Fronten sowohl hart als auch schwammig sind. Die Mutter ist überfordert, das Kind gehässig und wer seine Eigenschaft als Reaktion auf das Attribut des anderen erst entwickelte, bleibt so unergründlich wie die Frage nach dem Schuldanteil, die Frage nach dem Huhn und dem Ei.

Erzählt in Erinnerungen

Der Zusammenhang lässt sich schnell kombinieren: Eine Frau lebt, verstoßen und verschmäht von Gesellschaft, in vor sich hin vegetierenden Elend, sie besucht einen jungen Mann im Gefängnis und erinnert sich, immer wieder, an die Katastrophe in der Schule. Trotz der vielen Zeitsprünge fällt es nicht schwer, sich innerhalb der Story zu orientieren. Die eigentliche Handlung passiert fast ausschließlich in der filmischen Vergangenheit -in der Gegenwart gibt es nicht viel. Mutter und Sohn sitzen beide in ihren eigenen Gefängnissen. Das Präsens ist der ultimative, nicht rüttelbare Ist- Zustand. Die Vergangenheit ist der Gewesen-Zustand, in dem immer wieder ein traurig-bitteres Hätte mitschwingt. Genau in dieser Umkehrbarkeit des Geschehenen hat der Film seine melodramatischen Momente, die aber niemals rührselig wirken. Nein, knallhart ist das, dieses Leben. Das Schweigen spricht lauter. Überhaupt bedient sich die Erzählweise des Filmes stereotypischen Elementen verschiedener Genres und irgendwo zwischen Familiendrama, Psychothriller und Horrorfilm schlägt das Mischlingsherz der Neuerfindung.

Die Gegenwart lebt von stilistischen Darstellungen des Innenlebens, erwirkt durch Kamera und Schnitte: es wackelt, es springt, Dialogfetzen ertönen und klingen wieder ab – kreiert wird feinster, bildästhetischer Kopfschmerz.

Die Spannung entsteht nicht in erster Linie durch das Hinfiebern gen Ende, welches offenkundig grausame Erwartungen weckt, sondern in der genauen Personenstudie. Mit Feingefühl nimmt Ramsay sich Zeit für die Darstellung eines vermeintlichen Monsters und seinem Werdegang unter Mutterschutz – auch wenn es sich hier ebenfalls um einen Versuch handelt, eine Mörderbiographie zu skizzieren wie etwa die des Grenouille in Tom Tykwers Das Parfum (2006) nach dem Roman von Patrick Süskind, so ist es diesmal eine allzu erschreckend normale. Kein Fantasieprodukt, sondern gegenwärtige Realität. So wird der Film, der in Erinnerungen erzählt, auch Dokumentation eines Einzeltraumas und Psychogramm seines Auslösers – und wirkt deshalb stellenweise so völlig fern der Welt, weil seine Hauptdarstellerin es ebenso geworden ist.
Ramsay legte Wert auf haptische Darstellung und sensuelle Ansprache, die fast schon plakativ wirken würden, wären sie nicht einfach so gut gelungen. Vereinzelt, aber akzentuiert gibt es diese Momente, intime Nahaufnahmen, zu nah, zu ekelhaft: Abgebissene Nägelschnipsel werden von der Zunge gezogen, es spritzt die Lychee im Mund, das geöffnete Auge, das nachts wachend liegt. Vereint sich dieses stark inszenierte Darstellungsweise mit dem genannten, dokumentarischen Anspruch? Ja, absolut – denn was wir sehen, sind Erinnerungen, sind in der Vergangenheit lokalisierte Bilder einer Subjektiven, die prägenden Eindrücke, einzelne Gefühle eben, die sich kanalisieren und in bildhafter Erinnerung verzerrt wieder ausdrücken. Es ist die einzige Wahrnehmung des Gezeigten, die zugleich einziger, unverlässlichen Zugang zur Geschichte ist.
Die Lippen sind trocken, feine Härchen im Gesicht, Hautunreinheiten. Menschen sollen gezeigt zeigen, Menschen in einer Extremsituation: nackt, fehlbar, verrückt.
Bei aller albtraumhaften Erzählstruktur – die besonders deshalb passend ist, weil das den Film dominierende Erinnerungsdenken dem Traum immer deshalb schon sehr nah ist, weil es selbst nichts als Tagträume sind – hat die Schottin alles ganz genau durch komponiert und symbolisch aufgeladen. So sind die Geister an Halloween solche, die sie wie untote Spukgestalten ihrer Vergangenheit jagen, Repräsentanten der Gesellschaft auch, die an ihrem Gehäuse rütteln.
Auf diese Weise wird Ramsays Film, bei dem vielleicht bei zu vielem einfach alles stimmt, ohnehin zu einer Geschmacksfrage: Wer Symbolik nicht scheut, der finde sich hier im Elysium.
Die Frage ist, ob gefällt, was sie macht. Die Frage ist nicht, ob sie in dem, was sie macht, gut ist.

Und überall Blut – fast

In Ramsays Film wird mit eigentlichen Blutdarstellungen bemerkenswert gespart. Dafür kommt es in der Darstellung blutähnlicher Substanzen zur exzessiven Ausschlachtung, die den Film zu einer Art assoziativen Endlosschleife des Sterbens, Sickerns und Sühnens werden lässt. Dabei wirkt diese Omnipräsenz des flüssigen Rots erst einmal so anstrengend plakativ, dass man sich als Zuschauer allmählich genervt fragen müsste, ob man den Ausdruck Blut an den Händen haben noch mal neu beigebracht bekommen soll. Das funktioniert auch deshalb so gut, weil es einfach ziemlich universell ist: to have blood on one ́s hand, sagt der Engländer, avoir les mains pleines de sang, der Franzose, tener las manos manchadas de sangre, der Spanier und ha blod på sina hände der Schwede. Die Hand ist das Tat ausführende Körperteil, das Blut daran bedeutet Schuld (gemäß der Filmästhetik wiederholen wir das hier auch noch mal ganz, ganz klar).

Am Anfang suhlt und badet sich die Mutter noch im Tomatensaft des spanischen Tomatina-Festes in nahezu orgasmischer Sinnlichkeit als handle es sich um die Fleisch gewordene Frucht des Lebens. Die Massakermetaphorik wird zwar hier schon in bedrohlicher Blutbad-Optik angedeutet, klassisch expositionell, aber von Eva selbst noch verkannt. Aber da war Kevin auch noch nicht da und Kevin ändert alles: Alltag, Ehe, Selbstbild.

Im Präsens des Films, nach der ungeheuerlichen Tat, kann Eva buchstäblich nichts mehr sehen vor lauter Rot. Unbekannte haben einen Eimer Farbe über die Windschutzscheibe geschüttet. Über das Haus auch. Das Rot befällt und umklammert sie. Es klebt in Gesicht, im Haar und zwischen den Nagelrillen, ständig, und einen Großteil ihrer Zeit versucht sie – vergeblich – , es loszuwerden. Es ist eklig und ungemütlich. Aber auch in den Rückblicken, die einen Großteil des Filmes ausmachen, schleicht es sich ins Bild, in dunkler Vorahnung, etwa wenn Kevin als Kind seine Farbpistole austestet und das Rot über Mamas Weltkarten, Sinnbild ihrer Passion, spritzt. Mutter zertrampelt die Pistole in roten Spritzern gleich einem riesigen, zermalmten Insekt.

Bemerkenswert ist Ramsays Fertigkeit, diese zunächst einmal plagende, als hyperverwendet empfundene Stilistik zu einer wahren Plage werden zu lassen. Denn was einen zunächst erst nur penetrant anspringt, wird schließlich einverleibt. Schwer fällt es, nicht im Lauf der Geschichte auch nur noch überall Blut in Rot zu sehen: zum Beispiel in dem nichtigen Alltagsgegenstand dickflüssiger Fruchtmarmelade auf dem Buttertoast. In ihrem dichten Film gelingt es Ramsay, den Zuschauer auf Blutassoziationen zu konditionieren und erschafft somit einen mitreißenden psychologischen Sog, der das filmische Miterleben ungewöhnlich intensiv werden lässt. Der rote Faden aus Blut ist, anders wie bei etwa Tarantino, einer, der sich ausschließlich psychologisch auffädelt.

Der erlebte, ungezeigte Horror

Ramsays Film gelingt es, die düstere Stimmung seiner literarischen Vorlage zu transportieren. Doch gerade damit er das tun kann, musste er sich in seiner Umsetzung für abgeschwächte Variationen der literarischen Bilder entscheiden. Der Briefroman, der in seiner detaillierten Beschreibung beste Anleitungen für jeden story board-Zeichner bieten würde, schildert in graphischen Deskriptionen die Gräueltaten des Teufelskindes. Sehr genau beschreibt Shriver in dem 2003 veröffentlichten und mit dem prestigereichen Orange Prize ausgezeichneten Werk, durch welche Arterien und Muskeln sich Kevins Pfeile bohren, gibt seitenweise Einblicke in das Schulmassaker selbst und die Vollstreckung jeden Opfers und deren mögliche letzten Gedanken. Einzig im unerwarteten Ende, im absoluten Grauen, das das vermeintlich unermessliche Grauen noch übersteigt, ist der Schock ein inhaltlicher als auch ein ästhetischer zugleich, beides kommt so plötzlich, dass es sich kaum voneinander unterscheiden lässt. Dieselbige Stelle im Roman: ein durch und durch schauerliches, profund geschildertes Szenario. Der Film verzichtet auf diese Stellen und visualisiert auch das Kernstück des novellistischen Narratives nicht, den Höhepunkt im aristotelischen Plotverständnis sozusagen: den Amoklauf selbst, auf den alles hinarbeitet, genau diesen Amoklauf bekommt der Zuschauer nicht einmal in blitzartigsten Flashback-Schnipseln zu sehen und auch die Opfer bleiben, anders als im Roman, weitestgehend anonym. Dafür gibt es zwei gute Gründe: Es ist der Film aus der Perspektive einer Mutter und befasst sich mit ihrem Leiden. Diese Mutter war bei der Tat nicht dabei. Das Es-nicht-gesehen-haben ist vielleicht die größere Bürde, auch für den Zuschauer. Was bleibt, ist das Grauen per sé, ohne dieses Grauen zeigen zu müssen. Was bleibt, sind leblose Körper auf einer Bahre, aus denen Pfeile emporragen – weil auch tatsächlich nicht mehr von diesen Menschen bleibt.

Und: Der literarische Stoff würde in seiner direkten Adaptation eine klassische Vorlage für einen Horrorfilm mit Splatterelementen liefern; Vorlagen für einen Film, den Ms. Ramsay, chapeau!, zu Recht nicht machen wollte. Viele Parallelgeschichten des knapp sechshundert Seiten Schmökers bleiben unerzählt, um Platz zu machen für die intensive Filterung des bleibenden Konzentrats – Anhänger des Romans dürften enttäuscht sein, berechtigt wäre das allerdings nicht. Die Verfilmung funktioniert als eigenständige, geschlossene Einheit – einzig ein besonders bedeutsamer Aspekt von Shrivers Roman wurde bedauerlicherweise vernachlässigt. Der Amoklauf wird unter den Ausführenden als einer Art origineller Sport mit High-Score-Liste dargestellt, die um das mediale Interesse konkurrieren. Einzig Kevins nahezu messianische Selbstwahrnehmung als Performer lassen diese Vielschichtigkeit erahnen und ein TV-Interview, das er gibt und auf die Sensationslüsternheit der Menschheit verweist.

Was die Brutalität betrifft, so ist der Film deshalb bewusst anders inszeniert als der Roman, um diesem ähnlicher zu sein. Der Literatur werden gewalttätige Ausführungen immer schneller verziehen als dem Film. Es geht hier nicht um das sichtbare Grauen eines Massenmordes. Eigentlich geht es auch gar nicht um einen Massenmord. Es geht um eben jenes Blut, das wir sehen, ohne Blut zu sehen.

Die starre Maske voller Schmerz – überzeugendes Schauspiel, gelungenes Casting

Gleichsam lebt Tilda Swintons Schauspiel erst durch das, was es in toter Darbietung aufweist: Die Auslassungen sind es, welche den Ausmaß des Schmerzes deutlich machen. Swinton muss in ihrer Rolle nicht vor Tränenwellen beben und gerade deshalb versteht der Zuschauer: sie hat sich schon leblos geweint. Das Gift authentische Seelendürre wirkt stärker als solches von gespieltem hysterischen Pathos und so gelingt es Swinton, still zu schreien, dass es einem eiskalt in die Knochen fährt. Bemerkenswert an dieser Stelle ist auch der Verzicht eines Voice-Overs, welches sich herkömmlich bei der diaristischen Erzählweise des Buches angeboten hätte.
Eine hervorstechende Überraschung ist die Besetzung des Titelträgers. Ezra Miller, der den jugendlichen Kevin verkörpert, ist in der Filmbranche zwar kein Unbekannter mehr und doch noch Geheimtipp. Kurz nach Kevin wurde er einem nochmals größerem Publikum bekannt durch seine Rolle in Stephen Chboskys Growing-Up-Drama The Perks of Being a Wallflower (2012) an der Seite von Emma Watson und Logan Lerman, in welcher er einen aufgedrehten und sensiblen, homosexuellen Schüler mimt, der sich Außenseitern annimmt. Kurz: Die einzige Gemeinsamkeit, die dieser Charakter mit Kevin hat, ist der High School Besuch. Miller ist ein Typ, der sich nicht typcasten lässt. Hübsch und doch abstoßend überzeugt der Jungdarsteller als Kevin durch seine intensive Eindringlichkeit und eine ihm eigene, aggressive Blasiertheit, welche die herausfordernde Darstellung des unmündigen Massenmörders gruselig authentisch wirken lässt. Das von Miller selbst inszenierte youtube-Video ‚Who is Ezra Miller?‘ wird, bleibt der New Yorker der vorgelegten Darstellungsleistung treu, unter dieser Fragestellung in ein paar Jahren niemand mehr ernst nehmen. Selten glückte das Casting so gut: Kevin kommt in dreifacher Ausfertigung verschiedenen Alters – den Säugling mal ausgenommen – und diese drei, allesamt überzeugend spielenden, Jungs, sehen sich so verblüffend ähnlich, dass man leicht glauben kann, es handle sich um eine Person. Da stimmt alles: die lange, dünne Statur, bleichhäutig, dunkeläugig, schwarzhaarig – und dieser dämonische Blick, das fratzenhafte Grinsen.
John C. Reilly, eigentlich eher aus der komödiantischen Ecke bekannt, am prominensten vielleicht als retardierter Sohn an der Seite von dem ebenfalls retardierten Will Ferrell in Step Brothers (2008), gelingt es Reilly nach Polanskis Göttergemetzel abermals eine überzeugende Vaterrolle einzunehmen. Bei dieser bärigen Kraft und naiven Wärme genügen ein paar helle Grinser purer Papafreude und ein Tanz mit Töchterchen im Wohnzimmer.

Verfilmung eines amerikanischen Traumas

Natürlich geschehen Dinge wie in Kevin nicht nur in den USA, aber sie tun es dort eben besonders häufig. Der Amoklauf und insbesondere das Schulmassaker sind klaffende Wunden der amerikanischen Seele. Das Thema ist im Grunde ein ganz Heikles. In den USA ist es an den High Schools üblich, sogenannte Code Red – Übungen durchzuführen. Was in Deutschland lediglich als Probe-Feueralarm und dazugehöriger Evakuation bekannt ist, nimmt in den Vereinigten Staaten weitläufigere Ausmaße an, die sich einer Realität bedienen, die durch das Durchführen solcher Probeläufe einmal mehr existent wird. Schüler lernen, wie sie sich zu verhalten haben, wenn eine oder mehrere bewaffnete Personen mit mutmaßlicher Tötungsabsicht in das Gebäude eindringen. Die Bedrohung wird als eine unmittelbare, tatsächliche empfunden. Die Orte der bekanntesten sogenannten school shootings der amerikanischen Geschichte sind eingeprägte Namen. Am 20.04.1999 töteten der 18-Jährige Eric Harris und der 17-Jährige Dylan Klebold dreizehn Menschen an der Columbine High School in Littleton, Colorado. Bei dem Amoklauf an der Virginia Tech in Blacksburg, Virginia wurden am 16.04.2007 32 Menschen erschossen. Am 14. Dezember 2012 starben 28 Menschen, darunter 20 Grundschüler, bei dem Amoklauf an der Sandy Hook Elementary School in Newtown, Connectitut. Im Nachbeben der Tat tritt in den USA die verstärkte Forderung zur Reformation von Waffengesetzen aus.

We Need to Talk About Kevin ist in seiner Machart und Ästhetik weniger dokumentarisch orientiert und ruhig als etwa Gus Van Sants Elephant (2003), doch gibt sich der Film trotz einer teilweise recht artifiziellen Inszenierung nicht als sensationsheischend. Das reale Trauma dient nicht als Grundlage für fiktives Popcornkino mit Blockbusteranspruch.

Was Ramsays Film von anderen filmischen Auseinandersetzungen mit der Thematik abgrenzt, ist die Originalität der Perspektive, die eine besondere Berechtigung hat und den Film somit gleichzeitig eine sozialkritische Komponente gibt. Nicht das Grauen der klassischen Opfers steht im Zentrum und auch nicht die Sicht des Täters, sondern der Blick einer der Figuren, die sonst als Nebendarsteller agieren und dabei, so auch eine Aussage des Filmes, sich in einer befremdlichen Mischung wiederfinden von Opfer und Täter – ohne selbst überhaupt direkt Teil des Geschehens gewesen zu sein. Als die sechzehnjährige Rachel Shoaf im Sommer 2012 die gleichaltrige Skylar Neese in West Virginia ermordet, lässt die Familie der Täterin ein offizielles Schreiben publizieren. Dort heißt es neben den allgemeinen Beileidsbekundungen: „We were shocked to learn of our daughter ́s involvement and there is no way to describe the pain that we too are feeling knowing our daughter was involved in Skylar’s death.“ Geschaffen wurde bei Ramsay ein Pionier-Film über eine Trauer, dessen Akzeptanz man sich vorsichtig noch erkämpfen muss.

Was bleibt

Der Titel ist appellativ: Wir müssen über Kinder wie Kevin reden – das ziehen wir aus diesem Film, aber nicht nur. Wir müssen über Ursprünge und Auslöser reden, allerdings nicht auf eine solch geradlinige Weise, dass es zufriedenstellend wäre, herauszufinden, dass der Täter sich regelmäßig Gewaltspielen zuwandte, wie die Medien gern postulieren. Es ist ein Film über eine völlige Sinnlosigkeit, die sich für Kevin daraus materialisiert, dass sie sinnlos ist, offen und ehrlich sinnlos ist, hohl, ohne Schein und Vorgabe. Am Ende aber ist er sich nicht mehr so sicher. Und drückt seine Mutter fest. Wenn Kevin liebt, dann sein innigstes Hassobjekt, seine Mutter. Die Mutter, die ihn immer schon gekannt hat, die Mutter, die er nicht tötete und dadurch täglich neu sterben lässt, die Mutter, die ihn regelmäßig in Haft besucht. Für einen Sohn, den sie nun endlich, endlich mit jedem Recht hassen dürfte. Deshalb ist es vor allem auch ein Film über Mutterliebe: darüber, dass sie sich von selbst nicht einstellt und darüber, dass sie sich auch nicht wieder einfach abstellt.

Eva hat ein Zimmer blau angestrichen und Kevins Klamotten sorgsam gebügelt. In ein paar Jahren wird er entlassen. Sein Zimmer steht bereit und Robin Hood liegt im Bücherregal.

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